Ein Videospiel kann auch Kunst sein und umgekehrt, Kunst fließt in vielerlei Hinsicht und an vielen Stellen in die Entstehung eines Spiels ein. Als digitales Medium ist es jedoch selten, dass Handarbeit - sozusagen eine handwerkliche Technik und ein Material - nämlich Knete - die Grundlage für alles bildet, von der Welt über die Bewegung bis hin zu einem interessanten Sammelsurium von Formen und Hintergründen.
Das Gameplay von The Midnight Walk ist absichtlich langsam und meditativ; es bietet keine traditionellen Herausforderungen, keine Punkte, zeitlich begrenzte Aufgaben oder klar markierte Ziele. Stattdessen liegt der Schwerpunkt auf dem Erlebnis und der Suche. Anstelle von Kämpfen gibt es Verstecken, Timing und in manchen Situationen Schleichen und Laufen, um zu überleben, aber das Spiel lässt auch Zeit zum Verweilen, um die Landschaft zu beobachten und in sich aufzunehmen, wie sie sich entfaltet. Die Steuerung ist minimalistisch, es geht nicht um Reflexe und Geschicklichkeit, sondern um Wahrnehmung, und so findet man Tonaufnahmen, seltsame Puppen, Schallplatten und andere Kleinigkeiten, die mit der Welt zu tun haben. Die meisten Interaktionen fügen sich fast unmerklich in den "Spaziergang" ein - Türen öffnen, Erinnerungsfetzen hören und mit kleinen Puzzlestücken vorankommen.
Schon bald finden wir einen Wegbegleiter in Form eines kleinen Wesens, das wie eine Kerze aussieht. Es ist Potboy, der uns beim Beleuchten, Feuermachen, Knöpfe drücken, Feinde in die Irre führen hilft und irgendwo auf halbem Weg zwischen Haustier und Gebrauchsgegenstand liegt. Es ist auch eine gute Frage, ob er uns unterstützt oder wir uns gegenseitig, denn wir erwecken ihn zum Leben, wir füttern ihn und steuern ihn, während wir seine Fähigkeiten brauchen, um überhaupt weiterzukommen. Aber die Welt ist dunkel, dunkel, unheimlich und voller Gefahren. Wenn Sie ein großer "Game of Thrones"-Fan sind, verkörpert dies ein Axiom von dort : "Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken."
Wenn man The Midnight Walk nur als Videospiel betrachtet, kann man immer noch ein sehr interessantes, einzigartiges Erlebnis haben, aber das Entwicklerteam von MoonHood Studios hat über 700 handgefertigte Objekte geschaffen, die dann in 3D in das Spiel eingewebt wurden. Die verwendeten Materialien waren hauptsächlich Ton und Pappe, aber laut dem Intro des Spiels haben sie auch eine ganz besondere Zutat hinzugefügt: Träume.
Die Kreaturen, Orte, Objekte und Hintergründe sind Kunstwerke für sich, die zum Leben erweckt wurden, um eine interaktive, spielbare Welt mit Geschichte und Bedeutung zu schaffen. Auch das Sounddesign ist bemerkenswert: Stille und Geräusche leiten uns an manchen Stellen, wir können mit geschlossenen Augen "lauschen", um den Schlüssel für den weiteren Weg zu finden, aber die zeitweilige Blockade unserer Sicht hilft uns auch, Illusionen zu durchschauen - zu sehen, was ist und nicht, was die Welt uns glauben machen will.
Die Figuren und Umgebungen wurden mit Stop-Motion-Technik geschaffen, d. h. jede einzelne Bewegung wird von Hand eingefangen und dann animiert. Diese Methode erinnert an die Atmosphäre traditioneller Animationsfilme und verleiht dem Spiel einen einzigartigen Look. Die bereits erwähnte Verwendung von Pappe und anderen einfachen Materialien trägt nicht nur zu einem verblüffend einzigartigen ästhetischen Erlebnis bei, sondern vermittelt auch das Gefühl, durch die Seiten eines lebendigen, dreidimensionalen Bilderbuchs zu gehen.
Die Schöpfer und ihre Arbeit haben viel mit den späten Filmen von Wim Wenders (z. B. Perfect Days) oder den Geschichten von Haruki Murakamis magischem Realismus gemein. Hinter der Oberfläche verbirgt sich viel mehr, als man sieht, und in einer magischen - und unheimlichen - Welt können Ästhetik, Bedeutung und Erscheinung so durcheinander geraten, dass es am Ende besser ist, derjenige zu sein, der das Gesehene bewertet, als derjenige, der es festhält. Und um sich den Symbolen, den ungewöhnlichen und doch vertrauten Figuren zu nähern, muss man sie kennen lernen, aber das erfordert Mut.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass "The Midnight Walk" ein seltenes und hervorragendes Beispiel dafür ist, dass ein Videospiel zu einer eigenständigen Kunstform und nicht zu einem Werkzeug wird. Die Knetfiguren, die Pappkulissen und die Stop-Motion-Animation sind ein ergreifender Ausdruck eines kreativen Wunsches - die zerbrechliche Präsenz von Material, Textur und handgemachten Welten im digitalen Raum zu bewahren - und gleichzeitig eine Antwort auf die aufgeblasene Realität der Online-Kultur. Das Spiel ist ein emotionales Abenteuer, eine Verflechtung aus einer faszinierenden Geschichte und einer atemberaubenden visuellen Welt, in der es sich lohnt, sich für ein paar Stunden zu verlieren.
